Kontrollverlust

Ich habe mir lange überlegt, was ich hier schreiben soll. Will ich meine Geschichte öffentlich machen? Soll jeder wissen, was passiert ist? Möchte ich intime Dinge erzählen? Gebe ich meine Gefühle preis? Und ja, wie du sehen kannst, mache ich das jetzt, denn vielleicht sitzt hier jemand vor dem Bildschirm, der die gleichen Dinge erlebt hat oder vielleicht sitzt ein Angehöriger hier, und fragt sich, was passiert denn mit meiner Frau, meinem Kind, meiner Mama oder Freundin.


Ich heiße Michaela, bin 45 Jahre alt, verheiratet, habe zwei Kinder (11 und 14). Meine Diagnose Brustkrebs erhielt ich im November 2019. Das Jahr 2020 wird für immer in meiner Erinnerung und auch in meinem Herzen bleiben. Ich schreibe meine Krankheitsgeschichte hier chronologisch auf:

  • 21.11.2019: Routinemäßige Kontrolle – auffälliger Befund
  • 13.12.2019: nach MRT – zuerst Vorlage der Unterlagen dem Tumorboard in IBK, anschließend Überweisung in die Klinik
  • 09.01.2020: Nipple Sparing Mastektomie rechts mit Sentinel-Node Biopsie rechts mit Simultanrekonstruktion mittels Expander, Befund: Mammakarzinom rechts, Ki67, HER2negativ Score 1+, von 3 entfernten Lymphknoten ist einer besiedelt
  • 21.01.2020: Entfernung des Nippel Areola Komplexes sowie der Wunddehiszenz
  • 04.02.2020: Infekt Mamma rechts, Wundrevision, Expanderausbau
  • 27.02.2020: Beginn der adjuvanten Chemotherapie mit 3 Zyklen Epirubicin und Cyclophosphamid gefolgt von III Zyklen Taxotere (dose dense, q14)
  • 13.07.2020: Beginn der Strahlentherapie
  • 19.08.2020: Ende der Strahlentherapie
  • 11.09.2020: Abschlussgespräch im Brust-Gesundheitszentrum IBK – weitere Hormonbehandlung und Kontrollen



Richtig realisiert, was mit mir passiert, habe ich die ganze Sache erst in Innsbruck in der Klinik. In der Gynäkologischen Abteilung III waren Frauen aller Altersgruppen mit Brustkrebs. Die einen hatten einen kleineren Eingriff, die anderen wurden mit Metastasen im Kopf und Rückenmark wieder nach Hause geschickt. So oft ich mir sagte: Michi, du schaffst das! Hat es mir mit diesem Spiegel an allen möglichen Szenarien komplett meine Fassung gekostet. Ich bin normal eine starke Persönlichkeit, die nichts umhaut, aber die Zeit in der Klinik machte mich sehr zerbrechlich. Der erste Blick auf meine komplett entfernte Brust? Naja, es kam mir nicht real vor. Du schaust in den Spiegel und es sieht im ersten Moment aus wie retuschiert. Als ob jemand einen Filter darübergelegt hat, der die gewünschte Stelle verpixelt. Das war alles so surreal. Mein Gehirn musste das erst mal realisieren, und ich damit klarkommen.Tja, dann kam die nächste Frage – wie zeige ich mich jetzt meinem Mann. Schon blöd, jetzt sind wir schon seit über 25 Jahren zusammen, haben zwei Kinder und mein Gedanke war eine Äußerlichkeit. Ich werde den Satz von meinem Mann nie mehr vergessen: „Ich sehe DICH, nicht deinen Körper.“ Dieser Satz begleitete mich durch dieses gesamte Jahr.

Dann hat die Chemo begonnen, und ich verlor meine Haare. Ich schaff‘ das. Rede mir ein, dass die Glatze gar nicht so schlecht aussieht. Die bestellte Perücke verwendete ich nicht, die empfand ich als unangenehm, und nahm stattdessen Tücher und Kappen. Mein damals 11-jähriger Sohn kam einmal zu mir, streichelte mir ganz selbstverständlich über die Glatze und sagte: „Mama, du fühlst dich so fein an.“ Dazu fiel mir nur wieder ein: „Er sieht MICH!“

Nach einiger Zeit verabschiedeten sich die Wimpern und Augenbrauen und ich sah blass und krank aus. Ich schminkte mich jeden Tag, zog mich jeden Tag an, auch wenn es mir noch so schlecht ging, denn wie ich aussehe so fühle ich mich, redete ich mir ein. Auch meine Fingernägel wurden braun und mein Gesicht etwas dicker. Meine Tochter (16) half mir beim Schminken und gab mir Tipps, die sie sich aus dem Internet geholt hat. Sie machte das mit einem solchen Eifer. Und wieder kam mir der Satz in den Sinn: „Sie sieht MICH!“

Endlich, die Chemo ist vorbei. Jetzt die Bestrahlung. Jeden Tag nach Innsbruck, 3h Stunden im Taxi. Mein Gott war ich genervt. Kein Schwimmen, keine Sonne, und das im Hochsommer. Ich war der Meinung es wird nur punktuell bestrahlt, aber als ich die Verbrennungen nach 4 Wochen sah, war mir klar, dass die gesamte rechte Seite bestrahlt wurde. Ich war rot, meine Haut löste sich ab und ich hatte offene, wunde Stellen. Meine Mama, die sowieso hart damit zu kämpfen hat, dass ich Brustkrebs habe, war ganz erschrocken. Sie tröstete mich und sagte: Warte, ich habe da ganz hübsche Unterhemdchen, die nicht so kratzen. Sie holte mir ihren gesamten Unterhemdchenvorrat und schenkte ihn mir. Das war so „liab“ von ihr, endlich konnte sie mir mit irgendwas helfen. Und wieder beruhigte ich mich mit dem Satz „Sie sieht MICH!“ Mir ging es jeden Tag besser und ich konnte wieder Arbeiten. Der Alltag hat mich wieder. Gott sei Dank es ist vorbei – aber ist es das wirklich? Wie ist der Blick auf mich selbst? Sehe ich MICH?

Hinter all dem Verständnis meines Mannes, der Kinder, meiner Mama ... wo ist mein eigenes Verständnis für mich. Habe ich mich beim Kampf gegen den Krebs selbst verloren? Kenne ich meinen Körper noch? Meine Glieder und Muskeln schmerzten bei jedem Schritt, ich hatte zugenommen, war vergesslicher und nicht so belastbar. Durch die Hormontabletten und Spritzen bin ich manchmal unausstehlich. Dazu fällt mir eine Geschichte ein, für die ich mich heute noch schäme. Ich bekam dienstags die Spritze und ging am Donnerstag mit meiner Tochter einkaufen. Ich spürte, wie ich innerlich brodelte und zum Zerreißen angespannt war. Irgendwas lief nicht so, wie ich mir es vorstellte, und ich flippte im Auto komplett aus. Beschimpfte meine Tochter und schrie mit ihr. Am Ende sprang sie zu Hause heulend aus dem Auto und ich saß am Steuer und überlegte mir: „Hä, was war das jetzt? Spinnst du jetzt komplett?“ Ich habe mich absolut unmöglich verhalten. Diese Anspannung hat sich bei meiner 16-jährigen Tochter entladen, und ich entschuldige mich nochmal hier bei dir Elisa – es tut mir leid. Ich weiß du hast mir schon vergeben, aber sowas geht gar nicht. Das war der absolute Kontrollverlust über mich und meine Gefühle. Weil ich selbst mit mir nicht klarkomme, sollten andere nicht darunter leiden. Tja, wenn das nur so einfach wäre ...

WER BIN ICH? Was ist noch übrig von mir, von der starken Michi, vor der Diagnose Brustkrebs. Der Alltag, das Familienleben läuft rund. Die Partnerschaft auch? So langsam sollte doch Normalität einkehren, wenn ihr versteht was ich meine? Ungeduld und Unsicherheit machen sich breit, genüge ich noch so? Wie sehe ich mich selbst? Das sind Gedanken, die ich nicht verheimlichen will, denn auch wenn ich diese Behandlung hinter mir habe, bin ich körperlich soweit OK, aber psychisch angeschlagen. Meine Gefühlswelt hat es ziemlich durcheinandergewirbelt. Die eigene Verletzlichkeit und Sterblichkeit vor Augen zu haben, ist sehr beängstigend.

Ich weiß, dass ich wieder „gesund“ werde, mit der Unterstützung von meinem Mann, meinen Kindern, meiner Mama und Freunden. Aber die wichtigste Unterstützung muss ich Selbst sein. Darüber sprechen ist sehr wichtig. Viele Mitmenschen haben Berührungsängste und wissen nicht, wie sie sich dir gegenüber verhalten sollen. Einfach darüber reden und offen sein. Da trennt sich schon der Streu vom Weizen, und du wirst erkennen, wer ein ehrliches Interesse an dir hat und dir Gut tut. Freiräume schaufeln, Auszeiten einlegen, sich selbst wichtig sein, nicht im Alltagsstress zwischen Haushalt, Kind, Beruf und „Frau sein“ versinken. Ich habe wieder begonnen Sport zu machen. Anfangs war es schon hart, trotz Schmerzen und ohne Kondition zu sporteln. ABER – neben dem Gewichtsverlust hat es noch mehrere positive Nebenwirkungen, meine Gelenke und meine Muskeln schmerzen nicht mehr so sehr. Ich bin wieder positiver und habe mehr Energie. Ich kann manche Dinge und Anspannungen im Kopf beim Sport lösen und bin zu Hause ausgeglichener.

Ich habe mich dazu entschlossen im April 2021 eine Brustaufbauende OP mit Eigengewebe zu machen. Ich denke und hoffe, dass dies dann der letzte Eingriff sein wird.

„ICH SEHE MICH JETZT BESSER ALS JE ZUVOR, UND ÜBERNEHME JEDEN TAG WIEDER MEHR DIE KONTROLLE!“